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Präsentation meines Romans „Brunello, Sex & Rock `n`Roll” wurde zu einzigartigem Fest

Einen unvergesslichen Abend erlebten knapp 200 Gäste beim Präsentations-Fest meines Romans im Cinema Paradiso. Der „Star” des Abends war für mich der Schauspieler Georg Wandl, der dem Inhalt bei der Lesung eine völlig neue Dimension gab. Der britische Ausnahme-Blueser Ian Siegal begleitete mit passenden Songs wie „Wind Cries Mary” und ich selbst führte mit einem „directors cut” in den Stoff ein. Die letzten drei Jahre habe ich bei intensiven Recherchen und vielen Reisen an meinem ersten Roman/Road-Movie „Brunello, Sex & Rock `n`Roll gearbeitet. In zahlreichen Interviews mit legendären Winzern aus dem toskanischen Bergstädtchen Montalcino, wie dem Grafen Cinzano oder Francesco Illy, habe ich versucht die letzten hundert Jahre seit der „Erfindung” des Brunello di Montalcino durch die Adelsfamilie Biondi-Santi nachzuzeichnen, die ohne Zweifel einen der größten Rotweine der Welt geschaffen hatten. Herausgekommen ist eine abenteuerliche Geschichte.

Der 580-Seiter ist ab sofort unter rah.haslinger@gmail.com oder hasi@weltenklang.at bestellbar.

Kapitel 6 - Brunello 1969

Jacopo und Franco Biondi Santi

23.4.1969, London. Das English Chamber Orchestra ist im zweiten Satz des Winters der „Vier Jahreszeiten” von Antonio Vivaldi. Die Queen deutet mit einem Nicken wortlos auf den Rotwein mit der magischen Zahl 1955 auf der Schulter der Flasche. Dieses Ritual wiederholt sich nun schon den ganzen Abend.

 

Am 23.4.1969 lud der italienische Staatspräsident Giuseppe Saragat die englische Queen Elizabeth II und den Duke of Edinburgh zu einem Dinner in die italienische Botschaft in London. Als Konsultant für die Ausrichtung des Abends wurde Rick Grey von Giuseppe Saragat herangezogen. Rick, der seit Jahren italienischen Lifestyle nach England importierte, genoss in Italien einen hervorragenden Ruf als verlässlicher Partner mit Handschlag-Qualität. Nur seinen Verbindungen verdankten die britische Mod-Szene einerseits und italienische Roller-Fabrikanten wie Piaggio und Lambretta andererseits den Boom der Scooter in England, die zu Zigtausenden aus Italien importiert wurden und das britische Straßenbild mitprägten.

 

Dass Maserati, wenn auch in geringen Stück-Zahlen, in England Fuß fassen konnte, ging ebenfalls auf Ricks Konto. Seit den frühen 1960ern mit schnellen Autos konfrontiert, war er nicht erst seit seinem Engagement in Italien ein großer Bewunderer der außergewöhnlichen Sportwägen aus Modena – und auch nicht der erste in seiner Familie mit einem Faible für die Marke mit dem Dreizack am Kühlergrill. Bereits 1957 pilotierte sein Vater James Grey beim tragischen (und letzten) Straßenrennen Mille Miglia einen Maserati 450 S, von dem nur neun Stück gebaut worden waren. Bloß zwei Exemplare dieser aufgrund ihrer enormen Leistung fast nicht fahrbaren Rennwägen gingen damals in private Hände, einer davon an die Familie Grey.

 

Von sechs an den Start gegangenen Maserati 450 S kam bei der Mille Miglia nur der Wagen von James Grey ins Ziel. Stirling Moss schied bereits nach zwölf Kilometern mit gebrochenem Bremspedal aus. Überschattet wurde das Rennen allerdings vom fürchterlichen Unfall des Spaniers Alfonso de Portagos, der ein Jahr zuvor für Ferrari in der Formel 1 gefahren war, den Titel aber an Maserati verloren hatte. Kurz vor dem Ziel, an nur dritter Stelle liegend, verzichtete De Portagos auf einen dringenden Reifenwechsel und knüppelte seinen Ferrari 335 Sport – einen von weltweit vier Stück – mit Höchstgeschwindigkeiten jenseits der 300 km/h über eine schmale Dorfstraße, die von Tausenden Motorsport-Begeisterten gesäumt war. Genau hier kam es zur Tragödie: Der Ferrari brach aus, überschlug sich mehrmals und riss neun Zuschauer mit in den Tod, genauso wie seinen Beifahrer und den Spanier selbst. Das war dann auch das Ende des gefährlichsten Straßenrennens der Welt.

 

Ricks persönliche Kontakte zu Italiens Top-Politikern führten zum Import von Maserati nach England, denn die Rennwagen-Schmiede der Maserati-Brüder stand damals bereits unter staatlicher Zwangsverwaltung. Darüber hinaus zog Rick Grey einen schwunghaften Handel mit italienischen Möbeln und Lebensmitteln auf und trat als einer der allerersten General-Importeure für diverse Pasta-Marken, Oliven-Öle und vor allem den boomenden Chianti in Erscheinung. Der kulturelle Austausch fand auch umgekehrt statt, und nachdem sich zuerst viele britische Künstler in der Toskana niederließen, folgten später reiche englische Familien, die das Bild der mittelitalienischen Provinz entscheidend mitgestalteten.

 

Mama erzählte mir einmal, dass ich nach meiner Übersiedlung aus Österreich erst drei Wochen in London lebte, während Rick seit zwei Monaten von der Tournee mit den Rolling Stones zurück war, als er zu einer Geschäftsreise nach Italien aufbrach und ihr versprach, eine besondere Tasche aus Florenz mitzunehmen: „Die Guccis stellten früher ganz wundervolle Sättel her“, erklärte er ihr, „mein Großvater verwendete für seine Pferde in den 20er Jahren nur die Sättel von Guccio Gucci. Und dass die dann in den 50ern ihren weltweiten Siegeszug mit exklusiven Lederwaren antraten, weißt du ja. Liebling, ich werde dir eine wunderschöne Tasche mitbringen, versprochen.”

 

Bei seinen Reisen nach Italien versuchte Rick immer wieder, sich selbst direkt bei den Produzenten ein Bild zu machen und neue Produkte zu finden. Er ermunterte bereits damals auch die Bauern zu mehr Qualität statt Quantität. Im Sommer 1967 wurde er von einem seiner Sieneser Händler nach Montalcino – einem verschlafenen Bauerndorf in der südlichen Toskana – eingeladen. Dort solle es einen ganz besonderen Ziegenkäse geben.

 

An einem sehr heißen Tag im Juni 1967 lernte er im winzigen Weiler Castelnuovo dell’Abate, südlich von Montalcino, den 22jährigen Vasco Sassetti kennen, einen Fleischhauer und Ziegenbauern. Sassetti empfing den fast ebenso jungen englischen Kaufmann und seinen Einkäufer sehr herzlich und servierte Capocolli, gerollte Schweinsnacken, Salami und seinen bereits bis nach Siena und darüber hinaus legendären Pecorino. Dazu stellte er eine grüne, etikettenlose Flasche Wein auf den Tisch und schenkte ihn in drei einfache Gläser ein. Der Duft des rötlichbraunen Weins strömte aus den schlichten Trinkgefäßen und legte sich schwer und dicht über den Tisch. Erwartungsvoll hob Rick sein Glas. Die drei prosteten sich zu. Ein erster kräftiger Schluck. „Buonissimo“, rief Rick, „was ist das für ein außerordentlicher Wein?”

 

Vasco erklärte ihm, dass er den Wein von Trauben aus einem seiner kleinen Weingärten gekeltert hätte und dass er ihn ausschließlich für den Eigenbedarf verwenden würde. „Die Traube heißt Brunello, diese Form des Sangiovese Grosso gibt es nur hier in der Gegend. Aber der Wein lässt sich bisher sehr schwer verkaufen, weil er durch die Lagerung in unseren großen Holzfässern nicht sehr zugänglich ist. Die Traube hat außerdem hohe Tannine, und man muss dem Wein genug Zeit geben, bevor man ihn trinkt. Andiamo”, und damit gingen sie in Richtung eines kleinen Gewölbekellers, in dem nur ein einziges, sehr großes Holzfass stand, sonst nichts. „Das ist mein Fass“, erläuterte Vasco, „es ist aus jugoslawischer Eiche. Ich habe es vor drei Jahren, gleich nach der Übernahme des Betriebs, als Vater gestorben war, bei den Franceschis gegen Salami und Pecorino getauscht.” Solche Händel kamen Rick sehr bekannt vor, und Vasco wurde ihm immer sympathischer. „Wer sind die Franceschis?” wollte er wissen. „Eine der wenigen Familien, die seit vielen Jahrzehnten auf ihrem großen Gut ‚Il Poggione’ Brunello erzeugen“, antwortete Vasco. „Derzeit sind sie dabei, mit einigen anderen Bauern ein Konsortium zu gründen. Sie wollen das, was mit dem Chianti kommerziell möglich wurde, auch bei uns versuchen. Das große Vorbild für alle hier ist aber die Familie Biondi-Santi, deren Weine nur in den wohlhabendsten Familien Italiens getrunken werden. Ferruccio Biondi-Santi, der Vater von Tancredi, dem jetzigen Familienoberhaupt, hat den Brunello-Klon, der bei uns wächst, 1888 erfunden.”

 

Und Vasco nannte noch ein paar Namen, die sich beim Consorzio beteiligen wollten: Podere Emilio Costanti, Col DÒrcia, Poggio alla Mura, Fattoria dei Barbi, Azienda Lisini und Castiglione del Bosco. „Wenn du willst“, fuhr er fort, „können wir die Biondi-Santis besuchen – ich liefere ihnen ohnehin heute ihre wöchentliche Fleisch-, Wurst- und Käsebestellung.”

 

„Lass uns zuvor noch etwas von deinem Wein trinken“, bat Rick, „das ist einer der interessantesten Rotweine, die ich je entdeckt habe. Selbst die bekannten Namen aus dem Bordeaux, die ich nach England importiere – wie Chateau Latour oder Chateau d`Yquem – sind jetzt nicht meilenweit von deinem Brunello entfernt, glaube mir.” Überaus erstaunt und auch geschmeichelt lächelnd prostete Vasco ihm zu. Die Flasche war bald geleert, Vasco holte die Waren für die Biondi Santis und verstaute sie auf der kleinen Rückbank seines Cinquecentos. Rick stieg zum ersten Mal in seinem Leben in einen Fiat 500. Bevor sie damit die Straße zurück Richtung Montalcino bergan sausten, hielt Vasco noch vor der Osteria Castelnuovo dell’Abates an, ließ den Motor laufen, sprang hinein und war nach zwei Minuten wieder zurück. „Ich habe auf Il Greppo noch schnell unseren Besuch angekündigt“, klärte er Rick auf, „hier im Lokal befindet sich das einzige Telefon im Ort.“

 

Wenige Minuten später bogen sie durch ein mächtiges schmiedeeisernes Tor und fuhren hupend die beeindruckende Zypressen-Allee entlang, die direkt zur Tenuta Greppo führte. An der Treppe zum Haus erwartete sie ein schlanker, äußerst elegant gekleideter älterer Mann, der aber dennoch jugendlich wirkte und sie herzlich empfing: „Benvenuto Vasco! Per di qua! Du hast uns mit deiner Huperei alle aus der Siesta geweckt.” Und zu Rick gewandt, dem er die Hand entgegenstreckte, sagt er: „Willkommen auf der Tenuta Greppo, Sir. Ich bin Tancredi Biondi-Santi, der Hausherr dieses bescheidenen Anwesens. Ich freue mich, dass Sie mein Gast sind!" – „Mein Name ist Rick Grey“, sagte Rick, als er die Hand von Biondi-Santi drückte, „ich komme aus London und bin auf der Suche nach besonderen Spezialitäten, die eine meiner Firmen importieren könnte. Der Pecorino von Vasco wurde mir in Siena empfohlen. Und Vasco wiederum meinte, Sie hätten einen ganz besonderen Wein im Keller.”

 

Sie betraten gemeinsam das Haus, der elegante Patriarch klatschte dreimal in die Hände und zwei Bedienstete standen sogleich vor ihm. „Elisa, bereite bitte eine Mahlzeit für uns vor“, sagte er freundlich zur Köchin, „und lass dir ruhig Zeit, denn wir werden zuerst eine Verkostung machen. Eine Scottiglia (12) wäre was Feines, Vasco hat frisches Fleisch mitgebracht, und ich denke, es sind auch noch Fasane, Hasen und eine Wildschweinkeule im Kühlhaus. Livio“, wandte er sich nun an den Burschen, „sei so gut und bereite eine Vertikale (13) mit folgenden Weinen vor: Je eine Flasche Riserva 1961, 1958, 1957, 1955, 1945 und 1925 und je eine Annata 1961, 1958, 1957. Ach ja, und eine Fassprobe Annata 1963. Jacopo soll dir dabei helfen, und ja, auch noch eine Fassprobe Riserva 1964, ich glaube, der ist ein Geniestreich geworden. Wir werden dann alle gemeinsam die Weine verkosten und auch essen. Zuerst aber soll Franco Mr. Grey durchs Weingut führen. Was für ein schöner Tag!” – „Franco?“ fragte Rick leise. „Sein Sohn“, antwortete Vasco ebenso leise und lächelte. Doch noch etwas beschäftigte Rick: Hatte er da richtig gehört? Ein italienischer Wein von 1925? Bisher hatte er gedacht, dass italienische Weine, abgesehen vielleicht von einigen wenigen Barolo aus dem Piemont, maximal 15 Jahre lagerfähig seien. Die Verkostung würde wohl sehr interessant werden.

 

Obwohl Vasco Sassetti sicher schon viele Male auf der Tenuta Greppo zu tun gehabt hatte, ließ auch er sich die nachfolgende persönliche Führung nicht entgehen und meinte zu Rick: „Ein Besuch auf Il Greppo mit einer persönlichen Führung von Signore Franco Biondi-Santi ist wie ein Kurz-Studium. Man lernt immer wieder etwas Neues.” Sie starteten den Rundgang in einem der Weingärten, die direkt an die Villa grenzten, und Franco, ein Mitt-Vierziger, der so elegant war wie sein Vater, begann mit seinen Ausführungen: „Bereits 1867 präsentierte Clemente Santi bei der Pariser Weltausstellung unseren Moscadello-Wein, ich zeige euch das Diplom später in der Bibliothek. Bei der Landwirtschaftsausstellung in Montepulciano 1869 hat einer unserer Weine von 1865 einen Preis gewonnen, das war irgendwie bereits der erste Brunello, zumindest ein Sangiovese, der für vier Jahre im großen Holzfass lagerte. Clementes Neffe Ferrucio Biondi-Santi, mein Großvater, hat dann wegen der großen Probleme mit Reblaus-Befall einen besonders robusten und resistenten Sangiovese-Klon isoliert und 1888 die ersten Brunellos auf Flasche gefüllt. Es gibt davon noch einige wenige Exemplare, ich werde sie euch ebenfalls zeigen.”

 

Auf dem Weg zurück zum Gut führte der sportlich-agile Edelwinzer weiter aus: „Wir haben hier auf Il Greppo von Anbeginn mit sehr großen slawonischen Eichenholz-Fässern für den Ausbau gearbeitet. Einige dieser ersten Fässer sind noch immer in Verwendung, das heißt, wir arbeiten beim Ausbau unserer Weine mit zum Teil fast 90jährigem Holz! Diese großen Fässer, eine knapp vierjährige Ausbauzeit für den Annata und bis zu sechs Jahre Fass-Lagerung für den Reserva geben unseren Weinen ihre enorme Struktur und Langlebigkeit. Erst vor wenigen Wochen haben mein Sohn Jacopo und ich einen Reserva von 1891 getrunken. Der Wein war noch voll da, ja – er schmeckte über weite Strecken sogar jugendlich”, erklärte Franco seinen interessierten Besuchern voll Feuer und Enthusiasmus sein Wein-Leben.

 

Im Flaschenkeller, der rund 200.000 Flaschen im Bordeaux-Stil aufnehmen konnte – und nur in diese Flaschen darf Brunello abgefüllt werden – bestaunten sie dann die tatsächlich noch vorhandenen Raritäten von 1888 und 1891. Der Signore erzählte auch, wie sein Vater und er 1944 eines Nachts die wertvollsten Brunellos eingemauert hatten, um sie vor der heranrückenden Front zu verstecken.

 

Der Fasskeller war nicht weniger beeindruckend, vor allem auf Grund der vielen teilweise sehr alten und großen Fässer aus slawonischer Eiche, Botte genannt. „Die Familie Biondi-Santi bezieht das Holz für ihre Eichenfässer schon seit jeher aus Jugoslawien. Wir schwören auf die slawonische Eiche, die fast zur Gänze aus der bevorzugten Sorte Quercus peduncolator besteht“, führte Franco aus, „sie ist um einiges geschmacksneutraler als die französische Eiche aus den Vogesen.” Nach einer kurzen Pause meinte er freundschaftlich: „Ragazzi, ich glaube, es ist Zeit, in die Gläser zu horchen!” Rick und Vasco folgten ihm in den ans Fasslager anschließenden Verkost-Raum, einem schlichten, schmalen und langen Gewölbe mit Panoramafenster, in dessen Mitte ein rustikaler Eichentisch mit zehn einfachen Sesseln stand. An den Wänden hingen einige wenige historische Dokumente zur Familiengeschichte, und auf einem schlichten an die Wand montierten Regal standen elf geöffnete Weinflaschen. Es war allerdings keine Dekantier-Karaffe zu sehen. Als Rick die Flaschen genauer betrachtete, konnte er erkennen, dass von jeder Flasche ein wenig Wein entnommen worden war.

 

Franco Biondi-Santi lächelte, als er seinen fragenden Blick sah, und klärte ihn auf: „Auf der Tenuta Greppo ist es Tradition, die Weine nicht zu dekantieren. Üblicherweise öffnen wir die Flaschen acht Stunden vor einer Verkostung, entnehmen ein wenig Wein und verschließen die Flaschen wieder mit dem Originalkorken. Der so an den Wein gelangte Sauerstoff in den Gefäßen genügt, um ihn zugänglicher zu machen.” Wie recht doch Vasco Sassetti mit seinem „eine Führung hier ist wie ein Kurz-Studium” gehabt hatte!

 

Rick war sehr beeindruckt, als er die Flaschen mit den Jahreszahlen 1945 und 1925 betrachtete, denn solche Daten kannte er bisher nur von Bordelaiser und Burgunder Weinen. Er war wirklich sehr gespannt, wie diese italienischen Raritäten schmecken würden.

 

Tancredi Biondi-Santi, sein Sohn Franco, dessen Frau Maria Floria, ihr Sohn Jacopo, der Önologe Giulio Gambelli, Vasco Sassetti und Rick Grey nahmen an der Eichentafel Platz. Franco begann, in jedes Glas einen kleinen Schluck Brunello di Montalcino Annata 1961 zu gießen, dann sein Glas zu schwenken und den Wein gegen das Licht zu betrachten. Dann schwenkte er den Inhalt nochmals und nahm einen kräftigen Schluck, um diesen im Mund zu behalten und geräuschvoll durch die Backen wandern zu lassen. Erst nach gut zwei Minuten schluckte er den Wein. „Buonissimo” war sein einziger Kommentar. Rick beobachtete mit Interesse die anderen Italiener, die es Franco gleich taten, und dann hob auch er sein Glas, schwenkte den Inhalt, roch daran, nahm einen satten Schluck und war mehr als beeindruckt: Was für ein Rotwein! Und das sollte laut Tancredi noch der unausgewogenste aller heute zu verkostenden Brunellos sein. Was mochte da noch kommen? Schon wurde der 1961 Reserva nachgeschenkt, und das Geschmackserlebnis steigerte sich sehr deutlich. So ging es dreimal hin und her zwischen Annata und Reserva – und Ricks Geschmacksnerven jubilierten.

 

Als der 1955 Reserva eingeschenkt wurde, meinte Gambelli, der Önologe des Hauses, der auch anderen Betrieben in Montalcino beratend zur Seite stand: „Dieser Brunello ist einer der allerbesten Weine, die ich je getrunken habe. Ich bin davon überzeugt, dass er 80, möglicherweise sogar bis zu 100 Jahre lagerfähig ist, und zu einem ganz großen Monument weiterreift.” Er sollte übrigens recht behalten, denn der Brunello 1955 Reserva des Hauses wurde 40 Jahre später unter die 10 besten Weine des 20. Jahrhunderts gewählt.

 

Rick war zu diesem Zeitpunkt von den vorangegangenen Weinen so begeistert, dass er für sich selbst bereits beschlossen hatte, Brunello in England zu etablieren, egal wie. Und der 1955er besiegelte seinen Entschluss. Gewaltig, das war die einzige Bezeichnung, die ihm zu diesem Reserva einfiel, und er sprach es auch mit nur einem Wort, der Familie zuprostend, aus: „Grandioso!”

 

Mit Ehrfurcht und auch einigen andächtigen Worten Tancredi Biondi-Santis zum Ende des 2. Weltkriegs wurde der Reserva 1945 eingeschenkt, und auch dieser entpuppte sich als ein ganz außergewöhnlicher Brunello. Als der Reserva 1925 im Glas war und Rick nur daran roch, war es vollends um ihn geschehen: Keinerlei Anflüge von Altersnoten oder oxidativen Einflüssen, im Gegenteil, dieser bräunlich-rot schimmernde Wein war fast noch straffer als sein Vorgänger, und auch im Antrunk bestätigten sich die Eindrücke. Er konnte es kaum glauben, aber der 42 Jahre alte Brunello schmeckte tatsächlich jugendlich und floral.

 

Die erklärenden Kommentare der Familie und des Önologen zu den verwendeten Fässern, den genauen Reifezeiten und weiteren Details notierte sich Rick in seinem kleinen schwarzen Notizbuch, das er sich alljährlich direkt von den Herstellern aus der französischen Stadt Tours schicken ließ. Diese sich ständig in Gebrauch befindliche Gedankenstütze, in deren von einem elastischen Band gehaltenen Vorsatzblättern sich noch zahlreiche Zettelchen tummelten, bot wie immer kaum genug Platz (14).

 

Einen Kontrapunkt zum Abschluss der Verkostung setzte die sehr junge, kantige und fast unzugängliche Fassprobe des 1963er Annatas, die aber laut Gambelli ebenfalls enormes Potential haben sollte.

 

Nach diesem ersten Flight (15), begleitet von einem wunderschönen Sonnenuntergang, wechselte die Gesellschaft in das mittlerweile vorbereitete Esszimmer. Sämtliche geöffnete Weine wurden mitgenommen und neue Gläser gebracht. Man ging zum festlich und reich gedeckten Tisch, wo bereits eine dampfende toskanische Borlotti-Bohnensuppe und selbst gebackenes Piadina-Fladenbrot warteten.

 

Während des Festmahls wiederholte sich der Flight, der zum reichlichen Essen natürlich auch etwas anders schmeckte. Vermutlich hauchte der zusätzliche Sauerstoff dem Wein weitere Lebensgeister ein. Rick bot den Gutsherren während des Abendessens an, sich um eine professionelle Vermarktung ihres Brunellos zu kümmern, er würde aber einige Zeit brauchen, um den Wein in gewissen Kreisen einzuführen. Ein Handschlag von Tancredi Biondi-Santi besiegelte die Partnerschaft und Rick war überzeugt, nun einen der besten Weine des Planeten in seinem Portfolio zu haben.

 

Als der italienische Staatspräsident Saragat zwei Jahre später die Queen und ihr Gefolge zum Dinner in Londons italienische Botschaft lud, wurde nicht nur das Menü vom italienischen Koch seines Vertrauens zusammengestellt, sondern Rick suchte auch die Weine aus – darunter einen Brunello di Montalcino Reserva 1955 aus dem Hause Biondi-Santi. Dies sollte der Startschuss für einen beispiellosen Siegeszug des Brunello rund um die Welt werden.